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Standpunkt 27.03.2024
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Standpunkt Steiger: Die locker-leichten Rufe nach der Zinswende

Wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger

Immer lauter werden die Rufe nach Zinssenkungen. Die Inflation sei doch „gezähmt“, betont etwa Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Die Grünen im Europaparlament sprechen sogar davon, dass sich die Inflation seit Monaten „im freien Fall befinde“ und es nun endlich Zeit für die Einführung von grünen Zinssätzen sei. Auch DIW-Präsident Fratzscher fordert die EZB zu schnellen Zinssenkungen auf. Und tatsächlich: Mehrere EZB-Direktoriumsmitglieder haben anklingen lassen, dass die Juni-Sitzung des EZB-Rats ein möglicher Termin für eine erste Zinssenkung sei. Der Finanzmarkt hört die Botschaft und taxiert die Wahrscheinlichkeit einer Juni-Zinssenkung aktuell auf stolze 74 Prozent.

Doch bei genauerem Hinsehen fehlt den lautstarken Forderungen nach einer entschiedenen Zinswende häufig das Fundament. Zunächst trägt die Aussage, dass die Inflation bewältigt sei und Preise gerade deutlich sinken würden, ganz massiv dazu bei, dass sich immer mehr Bürger die Frage stellen, ob die Politik noch Bezug zur Lebenswirklichkeit der Menschen hat. Geradezu gegensätzlich ist das Erleben, dass von Wohnraum über Einkäufe bis zu Strom und Energie alles teurer wird. Dieses Gefühl trügt nicht. Der sogenannte BIP-Deflator misst die Preissteigerungen der in Deutschland hergestellten Güter und Dienstleistungen. Hier sind wir mit einer Teuerungsrate von aktuell sechs Prozent weiterhin sehr weit entfernt von dem 2-Prozent-Ziel der EZB.

Was wir momentan erleben ist schlicht, dass Basiseffekte wirken und dadurch zwar Inflationsraten sinken, die Preise aber gleichwohl weiter steigen. Akteure, die dies als Erfolgsmeldung feiern und daraus die Notwendigkeit einer aggressiven Zinssenkung ableiten, verstehen offenbar nicht, dass Inflation kumulativ ist. Anders ausgedrückt: Wenn jemand im letzten Jahr 10kg zugenommen hat und in diesem Jahr nur 5kg, dann ist er dadurch nicht schlanker geworden. Analog ist es bei sinkenden Inflationsraten, die rein gar nichts mit fallenden Preisen zu tun haben.

Keine Entwarnung an der Inflationsfront

Im Gegenteil: Die Konsumentenpreise sind in den vergangenen zwei Jahren kumuliert um unglaubliche 25 Prozent gestiegen. Dieser Anstieg ist dramatisch. Stabile Preise sind eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren der Sozialen Marktwirtschaft und auch des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Das Gift der Inflation wirkt wie eine degressive Steuer und trifft gerade Menschen mit geringem Einkommen am härtesten. Vor allem tragen die 25 Prozent Konsumentenpreisanstieg auch das Potenzial von entsprechenden Zweitrundeneffekten in sich. Die Gewerkschaften werden diesen Kaufkraftverlust durch entsprechende Lohnverhandlungen ausgleichen wollen. Fachkräftemangel und Demografie stärken die Verhandlungsposition.

Doch nicht nur über die Lohnverhandlungen sind Zweitrundeneffekte zu erwarten. Auch von der Dekarbonisierung wird absehbar weiter ein signifikanter Preisdruck ausgehen. Wir wissen ja heute bereits, dass der CO2-Preis in Zukunft deutlich höher liegen wird, als aktuell. Hinzu kommen gewaltige Umstiegskosten. Die Krisen in der Ukraine und Nahost haben zudem die Risiken von geopolitischen Spannungen schonungslos offen gelegt. Gestörte Lieferketten, Re-Shoring oder die Erhaltung von Energiesicherheit - wir haben erlebt, wie schnell und stark diese Entwicklungen Druck auf das Preisniveau entfachen können. Nicht zuletzt bedeuten auch mehr Staatsschulden und eine expansive Fiskalpolitik eine Gefahr für das Inflationsziel. Die anhaltende Diskussion ausgabefreudiger Politiker über ein mögliches Aufweichen der Schuldenbremse zeigt, welches Damoklesschwert hier über uns schwebt.

Kein Zurück ins Nirgendwo

Alle diese Inflationstreiber sind keine Einmaleffekte. Es sind strukturelle Faktoren, die uns in den nächsten Jahren begleiten werden und niedrige Inflationsraten, wie vor der Pandemiezeit unwahrscheinlich machen. Umso wichtiger ist es, sich bewusst zu machen, dass die Null- und Negativzinsen nie ein normales Zinsumfeld gewesen sind. Es war eine geldpolitische Anomalie, die die Steuerungs- und Disziplinierungsfunktion des Zinses außer Kraft gesetzt und erhebliche Risiken mit sich gebracht hat. Dorthin zurückzukehren ist nicht erstrebenswert. Die Bundesbank hat durch die Anleihekäufe aus dieser Zeit in den letzten Jahren Milliardenverluste erlitten – allein 2023 fast 22 Milliarden Euro. Dank Rücklagen konnte die Notenbank diese Verluste bislang noch auffangen. Doch der Sicherheitspuffer ist restlos aufgebraucht und die Auswirkungen werden ab diesem Jahr direkt durchschlagen. Ungeschönt werden der Finanzminister und damit die Steuerzahler die Rechnung für die ultraexpansive Geldpolitik erhalten.

Zur Wahrheit gehört also, dass die Arbeit keineswegs bereits erledigt ist. Die EZB hat mit den Zinserhöhungen nur einen Teil der Normalisierung der Geldpolitik durchgeführt. Bei dem Verkürzen der EZB-Bilanz durch das Auslaufenlassen oder den Verkauf von Wertpapieren ist sie bislang kaum vorangekommen. Im Rahmen ihrer neuen Strategie hat sie sogar angekündigt, wieder Anleihen zu kaufen. Mit zusätzlichen starken Leitzinssenkungen würde die EZB nun das zweifelhafte Signal aussenden, dass sie mit der geldpolitischen Straffung bereits an Grenzen gestoßen ist. Für die Finanz- und Wirtschaftspolitik gilt es zudem, sich nicht auf die vermeintliche Wunderwirkung von niedrigen Zinsen zu verlassen, sondern durch Reformen wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen zu schaffen.